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Kindheit inSchlesien - Geschichten meiner Großmama

Meine Großmama Margarete Menzel wurde am 20.03.1904 in Kornitz, Schlesien geboren und wuchs in ihrer Kindheit in Zülzhof (heute Sulislaw) auf - dort war ihr Vater Franz Hugo Pantke Gutsverwalter - und ihre Geschichten sind in dieser Gegend nahe bei Grottkau, südlich von Breslau, beheimatet.

Nach der Flucht fand die Familie Menzel in Sende bei Bielefeld wieder zusammen, dort war mein Opa der Lehrer an der Schule Sende-Brisse. Ich bin dort aufgewachsen. Meine Oma war eine resolute, kontaktfreudige und sehr liebenswerte Frau. Laut Erzählungen meiner Mutter hat sie früher bei pädagogischen Konflikten auch mal mit der Reitpeitsche "erzogen", bei mir war sie sanfter - Glück für mich. Sie ist 1988 in Detmold, ihrem "Altersruhesitz", gestorben.

Vater Franz Hugo, die ältere Schwester Lize, Großmama und der Bernhardiner Barry

Also auf nach Zülzhof – ins Paradies meiner Kindheit. Ich war 6 Jahre , als wir hinkamen und mit 13 habe ich schweren Abschied genommen. Nun zu der Geschichte, die Du gern zuerst hören möchtest.

Die Sprache der Kühe
Es war in der Vorweihnachtszeit. Wenn es zu dunkeln anfing, war ich immer gern im Kuhstall. Die Mägde sangen beim Melken, um mich war es warm und heimlich, während ich im Stroh lag bei den Kälberboxen.
Da erzählten mir mal die Mägde, daß man in den heiligen 12 Nächten hören könnte, was die Kühe sich erzählten. Papa bestätigte mir das auch, und nun hatte ich keine Ruhe mehr. Ich bestürmte Papa und Mama mit Bitten, einmal im Kuhstall schlafen zu dürfen. Zuerst wollten sie mir’s ausreden, aber dann --- ich sehe mich noch wie ich glücklich an Papa’s Hand zum Kuhstall lief. Seffla ging mit der Laterne voraus, es war ein langes Stück, erst an unserem Garten vorbei, dann kamen die Gesindehäuser und am Ende war der Kuhstall. Gleich in der ersten Krippe wurde mir ein weiches Heunest gemacht, dann klirrte das Türschloß und ich war allein. Tja, da lag ich nun, stockdunkel war’s und still --- nur das leise Wiederkauen der Kühe war zu hören. Manchmal stand eine auf, da rasselte die Kette. Oh, ein bißchen unheimlich war mir’s schon. Zu dumm, daß die auch erst um Mitternacht sprechen mußten, es war sicher noch recht lange bis dahin! Vielleicht daß ich auch ein bißchen eingeschlafen war, als mir plötzlich etwas Nasses, Rauhes über das Gesicht fuhr. Ich erschrak fürchterlich und brüllte aus Leibeskräften! Bald waren die Retter da --- die Guten, sie waren erst gar nicht nach Hause gegangen. Und es war doch nur eine nasse Kuhzunge gewesen, die mich so erschreckt hatte!.
Und denkt mal, ich weiß bis heute noch nicht, was sich die Kühe in der heiligen Nacht erzählen.

Der verbotene Brunnen
Wie schön war doch mein Schulweg nach Giersdorf. Immer hügelrauf und hügelrunter. Und gleich wenn wir aus dem Hof rauskamen, war da der Teich. Ja man konnte so manche schöne Abstecherchen machen, ehe man zur Schule kam.
Biedel (das wurde aus Brüdel und richtig hieß er Max Link) war mein einziger Gefährte in den Giersdorfer Schuljahren, ein guter Kamerad. Er hat mich auch aus dem Brunnen errettet. Da wurde nämlich ein Brunnen zugeschüttet, vielmehr sollte er zugemacht werden. Es war uns zwar verboten, dorthin zu gehen, aber er lag so in der Nähe und da gingen wir eben mal schnell kucken. Ja und dann hatten wir soviel Spaß dran, immer Schnee reinzuschüppen und plötzlich --- lag ich drin. Und wenn der treue Biedel nicht gewesen wäre und mich noch schnell an den Haaren gepackt und rausgezogen hätte, ja dann ...
Da standen wir zwei nun da, beide bedeppert --- aus mir lief das Wasser, bald schlotterte ich vor Kälte. Aber nach Hause gehen, nein, das war mir zu riskant. Dann also schnell zur Schule --- wenn wir rennen, so dachten wir in unserem sechs­jährigen Unver­stand, dann werden die Kleider schnell trocknen. Sie trockneten aber nicht, sie gefroren. Und wie ich dann in der warmen Klasse sitze und langsam auftaue und unter mir sich eine große Lusche bildete --- und alle dachten doch natürlich ... --- und als ich dann zu flennen anfing, da ist wieder mein treuer Biedel für mich aufgestanden und hat alles erklärt. Nun schnellstens nach Haus --- und der glücklichen Errettung wegen gab es nicht einmal eine Strafe.

Meine Freundin Klara
Es war Biedel’s Schwester, ein Jahr älter als ich und in der Schule saß sie neben mir, aber in der anderen Bankreihe.
Sie sagte mir einmal falsch vor und als der Lehrer sie drannahm, sagte sie’ s richtig. Das hab ich ihr nie verzeihen können, so eine Falsch­heit! Sie war aber auch so tapfer und so er­finderisch in wilden Streichen, daß ich sie auch wieder sehr bewundern mußte. Aber wenn wir erwischt wurden, hat sie mich immer im Stich gelassen, die falsche Klara.

Die Rache
Ich weiß heut’ noch nicht, warum wir ausgerechnet bei den bösen Brocks Flieder klauen mußten! Wo er doch bei uns im Garten  auch so schön blühte!
Wir hatten auch grade erst angefangen, da hat uns auch schon die Brocks’ Anni erspäht. Und nun ging die Jagd los. Klara hatte geistes­gegenwärtig ihren Flieder fallen lassen, ich hielt ihn krampfhaft fest, als sie mich erwischte und bald auf der Erde hatte. Sie hieb auf mich ein was sie nur konnte und ich wehrte mich, biß, spuckte, fauchte wie eine wilde Katze. Als sie dann merkte, daß ich ihr die Bluse zerrissen hatte, ließ sie von mir ab. Aber wie sah ich aus. Und Klara --- die hatte mit unschuldigem Blick daneben gestanden, sie hatte ja keinen Flieder! Nicht einen Finger hatte sie gerührt, um mir zu helfen. Da beschloß ich, nie mehr mit ihr zu sprechen!
Und gigantisch tobten in meinem Innern die wüstesten Rachegedanken. Ehe ich noch zu Hause war, wußte ich schon wie ich es machen würde. Ich wollte der Anni auflauern, morgens früh mit einer großen Brennnessel, die in --- Kuhkacke --- getaucht war. So bewaffnet lauerte ich dann auch am nächsten Tag, da kam sie nicht. Dann hatte ich mal eine Brennnessel --- aber von einem Haufen war weit und breit nichts zu sehen. Schließlich kühlten meine Rachegelüste ab und das war gut so, denn stellt Euch einmal vor, wie mir’s dann ergangen wär’, die starke 17jährige Anni und ich kleiner Knirps!Leider hab ich auch bei Klara keine Charakterfestigkeit bewiesen. Wir versöhnten uns recht bald wieder.

Als ich Ziegenpeter hatte
Es ist die einzige Krankheit in meinem nun 54jährigen Leben gewesen. Und ich denk gern daran zurück, weil mich alle verwöhnten und ... na Ihr werdet schon hören!
Seffla brachte mir einen Spiegel, und da sah mich ein ganz schiefes Gesicht an. Die eine Seite war ganz dick. Aber Seffla schlug die Hände zusammen und rief, weil ich gar so betrübt dreinschaute, „aber Gretel, auf der dicken Seite bist Du ja viel, viel schöner, als auf der mageren!“
Mama brachte mir ihre sonst so gehüteten Nippfiguren. Ja und darunter war auch eine himmelblaue Ziege mit ihrem Hirten aus Porzellan, herrlich anzusehen! Und in mir wurde der Wunsch nach einer Ziege wach. Je mehr man mir das auszureden suchte, desto schlimmer wurde es. Ich glaubte, ohne Ziege würde ich nie mehr glücklich sein können. Ach was habe ich nicht alles versprochen, immerwährendes Bravsein, Gehorsam auf’s erste Wort. Ja da konnten doch meine Guten nicht mehr widerstehen. Und eines Tages war eine Kiste mit zwei Zicklein angekommen., die Mama bei Tante Agnes in Neiße bestellt hatte. Sie waren einen Sommer lang meine geliebten Spielgefährten und haben mir den Abschied von Klara leichter gemacht. Denn der Graf war in sein Stammschloß nach Koppitz gezogen und Klara’s Vater war doch Koch bei ihm, da mußten sie doch alle mit. Nun konnte Klara nur noch in den Ferien zu uns kommen. Aber wißt Ihr, was das Schöne dabei war? Jetzt stand doch das ganze Schloß leer und das viele Jahre lang. Davon will ich Euch nun erzählen in den ...

Oma als junge Frau

Abenteuer mit Papa
Papa hat mir und später seinen Enkeln immer nur nach langem Betteln von Rübezahl erzählt. Und er schmückte dann gleich den Anfang so grauslich aus, daß einem bald die Lust am Zuhören verging. So hatte Papa erst wieder mal Ruhe. Und es war ja auch viel schöner, mit ihm durch Wald und Feld zu laufen, ich immer wie ein Hündlein hinter ihm her. Und da Papa einen sehr raschen Schritt hatte, mußte ich oft einen kleinen Dauerlauf einlegen, wenn ich ihm auf den Fersen bleiben wollte. Wir sprachen nicht viel, aber manchmal drehte Papa sich um und sagte: “Rebhühnel“. Ich war wunschlos glücklich!
Nur einmal hat er mich angeschnauzt. Ich hatte mein Taschentuch vergessen und zog andauernd geräuschvoll hoch. Da drehte er sich plötzlich um: „Na da rotz doch schon endlich in die Schürze, wenn du kein Taschentuch hast.“
Als Papa einmal die Brunnenhäuser im Wald nachsah, entdeckten wir unten im Wasser einen kleinen Hasen, schon ganz schlapp, mit den Pfoten hielt er sich mühsam am Leitungsrohr über Wasser. Nur der Kopf und zwei kleine Pfoten kuckten raus. Er verhielt sich ganz ruhig, und wir beratschlagten eilig, wie wir ihn retten könnten. Zuerst hielten wir ihm einen langen Ast runter, aber er rührte sich nicht. Wir bemühten uns auf alle mögliche Art, nichts half. „Jetzt bleibt uns bloß noch ein Weg“, meinte Papa, „ich muß dich an den Beinen festhalten und du mußt versuchen, ihn zu fassen.“ Er packte mich fest an den Knöcheln und ließ mich langsam runter. Und wir hatten Glück, ich konnte den Hasen grad noch so am Schlawickel fassen und ihn rausholen. Aber könnt’ Ihr Euch denken, wie mein Herz gebummert hat, als ich da so senkrecht in dem finsteren Brunnen hing?
Ach und viel Leben war in dem nassen Fellchen nicht mehr. Papa, der nun eilig weiter mußte, riet mir, mich mit ihm in die Sonne zu setzen. Langsam trocknete der Kleine, ich konnte ihn schon streicheln. Sein Näschen fing an in der Luft rumzuschnuppern. „Ober er mir nachkommt, wenn ich aufsteh’“, dachte ich, „ich hab ihn doch gerettet“. Ich setzte ihn ins Gras und ging ein paar Schritte. Aber da plötzlich machte mein Häslein einen Satz und war im Gebüsch verschwunden! Da bin ich ein Weilchen ganz traurig gewesen.

Schreck auf der Jagd
Abends im Spätsommer durfte ich manchmal mit auf die Jagd gehen. Muksmäuschen­still mußte ich mich da verhalten, wenn wir da so am Waldrand saßen und warteten, bis die Hasen auf das Kleefeld zu Äsen kamen. Gefreut hab ich mich immer, wenn Papa danebenschoß und sie dann blitzschnell auf Nimmerwiedersehen verschwanden.
Aber was wir einmal für ein Wild heimbrachten! Wir hatten schon ziemlich lange gewartet, nichts zeigte sich und es dunkelte schon stark. Ich saß ein ganzes Stück von Papa entfernt und sehe plötzlich zwei dunkle Gestalten leise auf uns zukommen. Ich erschrak und wagte erst gar nicht, Papa zu rufen. Aber da endlich hatte er sie auch erspäht, sprang auf und rief: „Hände hoch“! Ach und die beiden waren noch mehr erschrocken als wir und hoben auch gleich die Hände. Es waren zwei entlaufene Russen, wir hatten ja Krieg 1914. Sie wollten sich nach Rußland durchschlagen. Wie schade, daß sie gerade uns in die Arme laufen mußten! Aber so hab ich damals nicht gedacht. Im Gegenteil, es kam mir wie eine Heldentat vor. Bald schon wurden sie wieder ins Lager zurücktransportiert.

Wie unser Nachtwächter sein Amt verlor
Mitten in der Nacht wurde ich plötzlich wach, hörte  Papa’ leise und aufgeregt die Assistenten wecken. Da war ich auch schon aus dem Bett gesprungen, den Mantel über und Papa nach... „Was ist denn passiert?“ „Die Pferde wiehern ganz wild, da sind sicher Spitzbuben da, wir müssen ganz leise sein“, flüsterte Papa. Der Hof war von Mondlicht übergossen. Einige Pferde gallopierten wild herum.
Während wir uns im Schatten der Gebäude an die Pferdeställe heranschlichen --- krachte plötzlich ein Schuß! Und ich sehe grad noch wie zwei Kerle über die Hofmauer verschwinden. Einen mußte der Schuß getroffen haben und die Polizei hat später die Blutspur verfolgt. Wir aber liefen erst mal zu den Pferdeställen. Die Schlösser waren erbrochen, aber es fehlte kein Pferd. Wie gut, daß Papa einen so leisen Schlaf hatte.
Nun hätten wir ja wieder ins Bett gehen können, aber in Papa fing nun der Zorn an zu kochen über den pflichtvergessenen Nachtwächter. „Den suchen wir erst mal und dann wird ihm das Leder gegerbt!“ Leise ging es nun von Stall zu Stall, jeder Strohhaufen wurde untersucht und endlich im Jungviehstall fanden wir ihn! Alle Viere von sich gestreckt lag er da im Stroh und schnarchte! Die Schnapsflasche neben ihm war leer.
Nun wird wohl das Strafgericht über ihn hereinbrechen, denke ich und schaue in Papa’s Gesicht. Aber das ist gar nicht mehr zornig --- er zwinkert mir lustig zu. Stricke hingen im Stall und im Nu hatten wir den Schnarcher fest gebunden. Er schlief ruhig weiter. Was hatten wir für eine diebische Freude daran! Aber stellt Euch mal das Hohngelächter der Knechte vor, als sie früh zum Füttern kamen. Alle Leute wurden geholt und mußten sich den Gefangenen ansehen, ehe man ihn befreite!
Aber sein Nachtwächtertraum war damit ausgeträumt.

Vom tapferen Schneiderlein
Es war einmal ein junger Mann, der keine Angst kannte ... Wenn Geschichten erzählt wurden, dann liefen unsereinem die Gruselschauer nur so über den Rücken ...
Herr Schneider dagegen, so hieß er nämlich, lächelte nur verächtlich. Er hätte sich noch nie gefürchtet, Gespenster gäbe es nicht, und mit Einbrechern, oh mit denen würde er schon fertig! Er zog seine Jacke aus und ließ seine dicken Armmuskeln spielen: „Nur immer frisch drauf los“. Angst zu haben wäre die größte Schande und noch mehr dergleichen Sprüche konnten wir oft von ihm hören. „Dem müssen wir’s aber mal ordentlich geben!“ Klara und ich warten uns darin einig. Eines Abends wollten wir unseren Plan ausführen. Wir hatten brav „Gute Nacht“ gewünscht und waren nach oben gegangen.
Die Eltern spielten noch mit Förster Pißkohl Skat, Schneider würde ihnen noch eine Weile zusehen und dann in sein Zimmer gehen.

Wir hatten uns bettfertig gemacht, die langen weißen Nachthemden angezogen und waren dann leise über den langen Flur in sein Zimmer gehuscht. In dem Kleiderschrank versteckten wir uns und hielten mühsam die Tür einen winzigen Spalt weit offen. Machten wir sie weiter auf, quietschte sie. Zum Ersticken heiß war’s und unsere Herzen bummerten. Wir schworen uns noch einmal, uns eher ein Stück Zunge abzubeißen, als loszulachen. Dabei preßten wir unsere rechte Hand und sprachen unsere alte Schwurformel: „Tatsach‘, Ehr‘ und Wahrheit!“
Es wurde uns plötzlich sehr ernst zu Mute, wir wollten schnell noch ein „Vater unser“ beten, da hörten wir sein Pfeifen auf der Treppe und die Tür flog auf.
Was wir jetzt zu hören bekamen, ach davon will ich lieber schweigen! Wer läßt nicht schon seinen Gefühlen freien Lauf, wenn er denkt, er ist allein!
Wenn uns das Lachen zu Ersticken drohte, dann schnell die Zunge zwischen die Zähne und kräftig zugebissen, das half. Und dann hatten wir ja auch Angst, er würde den Schrank öffnen.
Wie atmeten wir befreit auf, als wir merkten, daß er sich auszuziehen begann. Krächzend zog er seine Stiefel aus, planschte noch ein bißchen im Wasser und bumste dann ins Bett. Bald waren nur noch seine friedlichen Atemzüge zu hören.
Habt Ihr schon mal ein Mäuschen knuspern hören? Täuschend ähnlich klang’s, als wir jetzt mit einem Finger an dem Holz kratzen. Das Atmen hörte auf --- und wir waren still. Er brummelte was und schimpfte auf die Mäuse und schlief wieder ein.
Das wiederholte sich ein paar mal, als dann aber plötzlich ein Stiefel mit Donnergepolter gegen den Waschtisch bumste, waren wir so erschrocken, daß wir den Ausbruch beschlossen. Wir warteten nun wieder seine ersten Schnarcher ab, zählten bis drei und stürzten dann mit einem Indianergeheul zur Tür, die wir so zuknallten, daß ein Toter hätte aufwachen können. In unserem Zimmer riegelten wir uns schnell ein und dann lachten wir uns unter der Zudecke aus.
Hilfe, Hilfe, Einbrecher!“ Das ‚tapfere Schneiderlein‘ hatte sich bis zur Tür vorgewagt und schrie aus Leibeskräften. Papa und Förster Pißkohl stürzten mit ihren Gewehren die Treppe herauf --- alles wurde durchsucht. Schneider redete immer aufgeregt von einem Schuß, der haarscharf an ihm vorbeigesaust wär‘. „Vielleicht haben sie schlecht geträumt“, meinte Papa, als sie schließlich die Suche aufgaben. Aber das stritt er heftig ab. Alles beruhigte sich wieder. Da klopfte es leise an unsere Tür: „Gretel, gell sag’s nur, Ihr wart‘ es gewesen.“ Es war unsere liebe Mama und an dem Ton ihrer Stimme erkannten wir den Bundesgenossen. „Ja“, bekannten wir ebenso leise, „bitte nicht verraten!“ Sie hat es auch nicht Papa gesagt, wer weiß, wie er es aufgenommen hätte. Schneider war ja einer seiner tüchtigsten Assistenten. Ob der Schneider grollen oder lachen würde, wenn er es jetzt erführe? Ich glaube beides ...

Die Brüder
Sie kamen ja nur in den Ferien nach Haus und Willy, der ja in Freiburg studierte, sogar zweimal im Jahr. Aber vielleicht weil wir uns so selten sahen, war die Freude immer gar so groß.
Wie stolz waren Papa und Mama auf ihre stattlichen Söhne und was haben sie mit ihrem schönen Singen die Eltern erfreut. ‚Die Uhr‘ und ‚Archibald Douglas‘ waren Papa’s Lieblingslieder und sie sind so manches mal zu  Hause erklungen.
Papa sorgte aber auch dafür, daß tüchtig gearbeitet wurde und in der Erntezeit mußten die Jungens tüchtig mit ran und ich glaube, sie taten’s mit großer Freude.
Willy saß viel über seinen Büchern. Eine Zeit lang mußte ich ihm immer totes Getier bringen, vor allem Mäuse und die zerlegte er dann. Er hatte es gern, wenn ich ihm still dabei zuschaute.
Wie gut er zu mir war! Lieze, Willy und ich hatten Tante Agnes in Neiße besucht und waren mit einem späteren Zuge zurückgekommen, als vereinbart gewesen war. Kein Wagen war da, wir mußten also die 7 km in der Dunkelheit laufen. Das wäre weiter nicht schlimm gewesen, mir aber graute vor einer Stelle im Wald, wo sich mal einer aufgehangen hatte. In den Baum war ein großes Kreuz eingeschnitzt. Und unser Weg führte dort vorbei. Die beiden erzählten mir lustige Geschichten, um mich aufzumuntern. Als wir aber an den Waldrand kamen, blieb ich stocksteif stehen wie ein störrischer Esel, kein Zureden half. Schließlich bekannte ich unter Tränen, daß ich Angst vor dem Aufgehangenen hätte.

Sie lachten mich nicht aus. Willy lud mich auf den Rücken und trug mich im großen Umweg um den Wald herum. 45 Jahre sind darüber hingegangen. Und noch heute steigt es dankbar in mir auf, wenn ich daran denke

Geschichten vom Schloß
Aber erst will ich versuchen, Euch das Schloß zu beschreiben. Es muß damals schon sehr alt gewesen sein. Vorn an der breiten Freitreppe standen zwei eiserne Ritter. Viel Türmchen gab es und Balkons und bis hoch hinauf wucherte wilder Wein. Am meisten zog mich aber der hohe Turm an, von dem man eine herrliche Aussicht hatte. Und später, als ich schon in Grottkau in Pension war, bin ich manchmal bis vor die Stadt gelaufen, nur um ganz in der Ferne den Turm zu sehen.
In den vielen Zimmern habe ich mich nie zurechtgefunden. Allein dort zu spielen war mir unheimlich. Wenn aber Kinderbesuch da war, je mehr desto besser, dann spielten wir dort herrlich. Es waren ja auch noch viele alte Möbel da, ein Speiseaufzug in dem wir uns versteckten. Als wir einmal Klara raufziehen sollten, ging was kaputt --- und wir mußten erst Hilfe holen, um sie zu befreien. Was hätte ich da für Angst ausgestanden -  aber Klara lachte !
War ich allein und wollte gern auf den Turm, so nahm ich Barry mit. Das war ein großer Bernhardinerhund, treu und wachsam. Als er noch jung war, waren wir unzertrennlich. Später verlor er dann allen Humor und vertrug meine Neckereien nicht. Er knurrte mich an, wenn ich mich ein bißchen mit ihm zerren wollte. Da war er nur noch für ernsthafte Unternehmungen zu gebrauchen. Auf den Turm hatte er mich schon viele Male begleitet. Vor der letzten Leiter, die er ja nicht raufkonnte, wartete er immer. Wenn ich dann runter wollte, machte ich erst immer den Lukendeckel auf, rief „Barry“ und da ant­wortete er mit lautem Gebell. Aber das eine Mal blieb alles still. Es hatte ihm wohl zu lange gedauert und er war allein zurückgelaufen. Das Fenster, durch das wir immer ein- und ausstiegen, stand ja offen. Ich konnte rufen, so viel ich wollte --- Totenstille. Mir wurde Angst. Es dämmerte auch schon, ich wußte, keine Minute durfte ich länger warten. Es überrieselte mich kalt, wenn ich an den finsteren Boden, die langen Flure und vielen Treppen dachte, wo die Schritte so schaurig wiederhallten.
Doch ich mußte ja hinunter! Da riß ich schnell den Deckel auf und wie ich hastig die Leiter hinunterwill, streicht etwas an mir vorbei... da war es aus mit meinem Mut, schnell wieder hinauf, den Deckel zugehauen und dann geschrieen, geschrieen ...
Und man muß mich wohl gehört haben, denn wie ich dort runtergekommen bin, das weiß ich heut nicht mehr.

In Köchendorf
Wir werden sicher auch manchmal im Winter mit dem Schlitten nach Köchendorf gefahren sein. Doch in meiner Erinnerung sehe ich nur immer den sommerlichen Wald und die hohen Getreidefelder, durch die wir fuhren. Papa und Mama saßen hinten im offenen Wagen und ich stolz neben dem Kutscher. Wenn wir dann so schneidig losfuhren, hinter uns eine mächtige Staubwolke, ach Kinder war ich da selig.
Wenn wir ankamen, war schon immer alles bereit zum Mittagessen, ach wie schmeckte es mir dort immer gut!
Und dann kam das Schönste. Onkel Karl hatte nämlich ein Grammophon mit einem riesigen roten Trichter. Wie war er stolz darauf, wenn es losschmetterte und ich immer wieder um eine neue Platte bat.
Oben auf dem Vertiko stand ein Kästchen, das bekam ich zum Spielen. Wenn ich da den Deckel abschraubte, sprang mir immer ein zottiger Mann ins Gesicht.
Die Großen plauderten so gemütlich. Dann wurde auch ein Gang durch Garten und Feld gemacht, die Ställe wurden besichtigt. Onkel Karl hatte ja ein Mustergut (Es ist nach seinem Tode in fremde Hände gekommen, weil kein Erbe da war).
Beim Abschied passierte stets das Gleiche: Onkel Karl zwinkerte mich auf die Seite und schob mir verstohlen einen Taler in die Hand: „Psst, nicht der Tante sagen!“ Und genau das Gleiche tat auch Tante Anna.

Auf Arbeitssuche
Als ich älter wurde, hatte ich den Ehrgeiz, mich nützlich zu machen. Ich wollte in den Ferien nicht nur herumstrolchen oder andern im Wege sein, sondern richtig wie die Großen arbeiten. Mir schwebte da so ein Hirtenamt vor. Ich hatte ein Bild gesehen, einen Schäfer auf seinen langen Stab gestützt, umgeben von einer Schafherde. Ich ging also zu Papa und frug ihn, ob ich nicht die Schafe hüten dürfte. „Na meinetwegen“ meinte schließlich Papa, „aber nur solange, wie du deine Sache gut machst.“ Ich zog nun jeden Tag mit meiner kleinen Herde auf eine Waldwiese, ganz in der Nähe des Teiches. Da stand ich nun auf meinen Stab gestützt oder lag im Grase und guckte in den Himmel. Um mich herum grasten friedlich die Schafe --- ich war glücklich!
Aber nicht allzu lange, da sehnte ich mich schon nach etwas Aufregenderem. So ist nun mal der Mensch, besonders in jungen Jahren. Wieder ging ich zu Papa und machte ihm klar, daß ich etwas brauchte, wo ich mehr arbeiten müßte! „Da kann dir geholfen werden! Im Wald liegen so viele Eicheln, da kannst du die Jungschweine hintreiben und aufpassen, daß sie zusammenbleiben.“ Und das Schöne dabei, Papa versprach mir sogar Bezahlung!
Der Austrieb am Morgen ging noch. Die Schweinemagd half mir dabei, doch am Waldesrand überließ sie mich dann meinem Schicksal, den Schweinen. Die blieben nicht etwa zusammen, so wie die guten Schafe. Holte ich einen Ausreißer zurück, waren schon andere wieder auf und davon. Ich raste herum und schrie und schwitzte, aber die Schweine wurden immer weniger. Mit Wehmut dachte ich an mein Schäferdasein zurück, verwünschte die ganze Schweinebande und rannte nach Hause, um Papa die Arbeit zu kündigen! --- Und so nach und nach sind die Halunken alle wieder in den Stall zurückgekommen, ich aber hatte für alle Zeit genug.
Nun war ich eine ganze Zeit arbeitslos. Dann dachte ich, es wäre doch schön, wenn ich auch so melken könnte wie die Mägde: Stripp, strapp strull, ist der Eimer noch nicht voll? Ich umschmeichelte Mama, bis sie mir eine rotscheckige Kuh in Pflege gab, aber nur unter der Bedingung, daß ich früh um 6 Uhr zum Melken antreten müßte (Sie kannte mich genau). Einige male bin ich bestimmt zum Frühmelken dagewesen, oft kann’s nicht gewesen sein, denn ich war damals schon ein Langschläfer.
Aber Melken konnte ich wirklich schon mit 10 Jahren! Ihr glaubt mir nicht? Wenn Hugo noch lebte, hättet Ihr ihn fragen können. Er hatte einen Freund mitgebracht. Und während ich grade meine Rotscheckige molk, standen die beiden im Gang und hänselten mich dauernd, daß ja gar nichts rauskäme, ich könnte ja noch gar nicht melken. Mußte ich ihnen da nicht beweisen, daß ich’s wirklich konnte? Der Strahl, der sie dann traf, war kräftig! Leider hatte der Freund einen guten dunkelblauen Anzug an. Da wußte ich, was mir blühte und war wie ein Blitz über die Futterkrippe nach draußen geflitzt. Erst beim Hühnerstall haben sie mich erwischt! ---
Nun hatte ich erst mal genug davon, schon in so jungen Jahren ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu sein!
Ich kann mich nicht erinnern, daß ich jemals unter Langeweile gelitten hätte. Das Leben auf einem großen Gut ist ja so rege und abwechslungsreich für einen, der Interesse dafür hat.

Die Fahrt in den Graben
Papa und Mama hatten gern und oft Besuch und bei den vielen Ausfahrten durfte ich meistens mit. Von einer Fahrt, die im Graben endete, muß ich Euch erzählen.
Wir waren in Voigtsdorf eingeladen, den Namen der Familie habe ich vergessen. Es waren vier Jungen dort, so um mein Alter herum, mit denen ich toben durfte. Es war eine große Gesellschaft. In der Küche saßen an einem Tisch die Kutscher der Gäste, spielten Karten, aßen und tranken. Der Unsrige hatte zuviel getrunken, denn sonst hätte wohl das In-den-Graben-fahren nicht passieren können. Es muß schon ziemlich spät gewesen sein, denn ich kämpfte mit dem Einschlafen, als ich plötzlich merkte, daß die Pferde losrasten und der Wagen hin- und hergeschleudert wurde. Papa schrie dem Kutscher durch’s Fenster was zu; aber das ging schon unter in dem Krachen und Stürzen und Durcheinander. Papa konnte sich als erster befreien und fiel den Pferden in die Zügel, sonst hätten sie uns wohl zu Tode geschleift. Als ich aus den Trümmern rausgekrabbelt war, rannte ich voller Schreck auf’s Feld und schrie voll Angst: „Mein Bauch, mein Bauch“ obwohl mir nichts wehtat. Der armen Mama war’s schlimm ergangen. Sie hatte einen Schlüsselbeinbruch und war ganz zerschlagen. Sie hat lange, lange doktern müssen. Der Kutscher weinte nur immer und sagte „nur das Auto war Schuld, das quer zu unserem Weg auf der Straße fuhr, davon haben die Pferde gescheut.“
Aber auch an einen lustigen Umschmiß muß ich denken, das war bei einer Schlittenfahrt. Mit Ungeduld hab’ ich immer den ersten Schnee erwartet. Und wenn es dann soweit war und der Schnee lag hoch genug, dann brauchten wir Papa auch nicht lange betteln. Der Schlitten wurde herausgeholt, die Pferde bekamen ihr prächtiges Klingelgeschirr und juchei los ging’s!
Papa liebte sowieso ein flottes Fahren. Aber das eine Mal, die Pferde hatten wohl zu lange im Stall gestanden, es ging jedenfalls gleich los wie das Donnerwetter. Lieze und ich saßen bis zur Nasenspitze in dicken Fußsäcken und fanden das herrlich. Ich weiß nur noch, daß wir plötzlich in einer Kurve im weiten Bogen aus dem Schlitten rausflogen. Das wäre ja gar nicht so schlimm gewesen, wir flogen ja ins Weiche! Doch als ich den Kopf zum Fußsack rausstrecken wollte, um mich nach den andern umzusehen, hörte ich wütendes Hundegebell. Da kroch ich schnell wieder in mein Schneehaus und hielt fest den Pelz oben zu. Mein Herz wird wohl aber gebummert haben wie ich da so lag, ein Häufel Unglück im weißen Schnee, von wütenden Hunden umstellt, bis ich endlich Papa’s besorgte Stimme hörte und ich in den Schlitten getragen wurde. Lieze war es ebenso ergangen, nur lag sie ein ganzes Stück weiter. „Gut, daß Mama nicht mit war!“ sagte Papa erleichtert und wir versicherten ihm, daß wir nichts verraten würden.

Mama's Geschichten
So viel mich am Papa begeisterte, aber im Geschichten erzählen war ihm Mama weit überlegen. Wie hat sie mir Klein-Jenkwitz, den Bauernhof, wo sie geboren wurde, lebendig gemacht.
Da war der so lange gelähmte Großpapa und die tatkräftige Großmama. Als den Hof Onkel Josef übernahm und Großpapa gestorben war, kam sie manch­mal zu uns. Eine gute aber strenge Frau in ihrem schwarzen Kapotthütchen mit langen seidenen Bändern. Kaum war sie da, verlangte sie schon nach dem Flickkorb und wenn er leer war, hatte sie keine Ruhe mehr und fuhr wieder nach Hause. Sie vermißte es bei uns sehr, daß sie nicht wie zu Hause täglich zur Kirche gehen konnte. Großpapa soll viel heiterer und ein großer Kinderfreund gewesen sein. Noch in seinen kranken Tagen haben sich die Dorfkinder um seinen Rollstuhl gedrängt, und er hat ihnen erzählt und sie Spiele gelehrt.

Die Stiefeltherese
Dann war da die Stiefelterese, der gute Geist des Hofes. Genannt wurde sie so, weil sie immer nur in Stiefeln ging (ob Sonntags auch, hab’ ich nicht gefragt). Sie gehörte zur Familie und genoß große Rechte.
Mama’ s Schwester, die Tante Agnes, hatte in die Stadt geheiratet und war die vornehmste der Hanseltöchter. Als sie einmal mit ihren beiden Jungen, die in schönen weißen Anzügen steckten, zu Besuch kam, passierte das Malheur, daß die beiden in die Jauchegrube fielen. Sie waren trotz dem Verbot der Stiefelterese drübergesprungen. Zum Glück hatte sie’s gesehen und sie rausgeangelt. Als nun Tante Agnes rausstürzte und ihre schreienden, stinkenden Sprößlinge sah, wollte sie vor Mitleid zerfließen. Aber die Stiefelterese riß ihnen schnell die Anzüge runter und klatschte ihnen erst tüchtig den Hintern aus, ehe sie sie in die Wanne steckte.

Das Zirkuspferd
Ach und die Geschichte mit dem Zirkuspferd! Was mußte ich da immer lachen, wenn sie Mama erzählte.
Anna, Mama’s älteste Schwester, war als Kind eine Treppe heruntergefallen und hatte sich das Bein verletzt, so daß sie gar nicht mehr laufen konnte. Kein Arzt konnte ihr helfen und man fürchtete schon, daß das Bein steif bleiben würde. Da wurde Großmama geraten, es doch noch mal in Neiße bei einem berühmten Arzt zu versuchen. Nun ging doch damals noch keine Eisenbahn dorthin. Da wurde angespannt, die kranke Anna in Decken gepackt und los ging’s. Dieses Pferd hatten sie noch nicht lange, es muß wohl aber ein Zirkuspferd gewesen sein. Als die schwere Bauernkalesche nun endlich in Neiße einfuhr, kam ein Trupp Soldaten mit einer Musikkapelle. Das Pferd hörte die Musik  und die Ohren wurden spitz. Und nun versuchte es mit aller Gewalt, sich hinter der Musikkapelle einzureihen. Der Kutscher mochte noch so viel an den Zügel zerren, die Großmama schimpfen, es nützte alles nichts; an ein Abbiegen war nicht zu denken. Und Anna lachte so und die Soldaten lachten und alle die vorbeikamen. Im tänzelnden Taktschritt ging es nun bis zur Kaserne. Erst als die Musik schwieg, fiel das Pferd aus seiner Verzauberung und ließ sich nun willig zum Arzt lenken. Ja und der hat die kleine Anna auch wieder ganz gesund gemacht.